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Aus dem Weinberg: Vom Mythos wurzelechter Rebstöcke

Aus dem Weinberg: Vom Mythos wurzelechter Rebstöcke

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Aus dem Weinberg: Vom Mythos wurzelechter Rebstöcke

Ein Mythos im dichten Dschungel der Weingeschichten, der sich unter Weinfreaks hält wie kaum ein anderer, ist der von Weinen aus wurzelechten Rebstöcken. Gemeint sind damit Weine von Rebstöcken, die vor der Reblauskatastrophe produziert wurden.

Je nachdem, wann die Reblaus «zugeschlagen» hat, sind diese Rebstöcke in einem biblischen Alter von mindestens 125 Jahren – und damit ebenso rar wie teuer. more

Weine aus der sagenumwobenen Periode »wurzelechter Rebstöcke« gelten als das Nonplusultra, die schiere Vollendung dessen, was je von Winzerhand aus Weinbeeren produziert wurde. Das kann doch nur besser sein als »Gepfropftes« – oder?

Wurzelechte Rebstöcke stehen heute nur noch in sandigen Böden oder in aussergewöhnlich hohen Lagen, denn beides gefällt der rabiaten Reblaus überhaupt nicht. Der mit der Blattlaus verwandte Rebschädling kam in den 1860er Jahren von der Ostküste Amerikas über London ins südliche Frankreich. Wie ein Berserker wütete sie in den Weinbergen, die kleine, herzig aussehende Laus.

Das Tierchen ist in Fachkreisen unter »Phylloxera vastatrix« bestens bekannt und gefürchtet. Ihr Name steht für »verwüstende Laus«, treffender geht es nicht. Einmal von ihr befallen, ist nach drei Jahren der Abschied der Rebe gekommen. Sticht der Wüstling die noch unverholzten Wurzelspitzen an, ist das weniger dramatisch. Einem Todesurteil gleicht es, wenn sie die verholzten Wurzelspitzen attackiert.

Allerdings lässt sie bestimmte Amerikanerreben in Ruhe. Deshalb handelte man Ende des 19. Jahrhunderts pragmatisch, um die Reblaus zu vernichten: Kopf ab hiess es für die Rebe, nicht die Laus.

Vereinfacht gesagt schnitt man die resistenten Amerikanerreben ca. 20 bis 50 cm oberhalb des Wurzelwerks ab und setzte auf diese Schnittstelle eine europäische Edelsorte. Im Fachjargon wird dieser Vorgang Pfropfen genannt.

Das Problem der Reblauskatastrophe schien gelöst, wobei auch das stark vereinfacht ausgedrückt ist. Denn über Jahrzehnte versuchte man weiterhin alles Mögliche, um dem lausigen Eroberer den Garaus zu machen. Nun ist es aber nicht so, dass man heute keine wurzelechten Rebstöcke mehr findet. Sie stehen weltweit betrachtet wohl noch zu fünf bis zehn Prozent in den Rebbergen.

Wurzelechte wirklich besser?

Prä-Phylloxera-Weine, so werden sie auch bezeichnet, sollen die Besseren sein, eine Qualitätsebene über allen stehen. Dieser Mythos ist aus einem ziemlich einfachen Grund nicht haltbar: Es fehlt am seriösen Vergleich! Da es zu damaliger Zeit nur wurzelechte Rebstöcke gab, mangelt es logischerweise an einem gepfropften Pendant. Wie will man beweisen, sie seien die besseren Weine? Vergleichen geht nur dann, wenn es etwas zum Vergleichen gibt.

Aber lassen wir das Vergleichen mal aussen vor. Unweigerlich drängt sich dann die eine Frage auf: Hat der Prozess des Pfropfens keine negative Auswirkung auf die Rebe und infolgedessen auf den späteren Wein? Immerhin wird die Nährstoffpipeline von der Wurzel zur Beere erst nachträglich verbunden.

In der Praxis heisst das nichts anderes, als dass zwei Pflanzenteile angeschnitten und zusammengesteckt werden, um dann zusammenzuwachsen. Der untere Teil ist die Amerikanerrebe, der obere eine der europäischen Edelsorten. Da drängt es sich auch dem Laien auf, das muss doch einen Einfluss haben.

Laut allgemein herrschender Auffassung unter den Weinbauforschungsinstituten gibt es aber keinen negativen Einfluss. Daraus folgernd nimmt die Beeren- und die spätere Weinqualität auch keinen Schaden.

Schaut man sich die Forschung von Unterlagsreben und Rebsorten an, stellt man fest, wie fortgeschritten diese heutzutage ist. Unterlagsreben, also der Teil mit der Wurzel, werden immer genauer auf die jeweilige Situation vor Ort angepasst. Welche Unterlagsrebe mit welcher Sorte in welchem Klima auf welchem Boden am besten passt: Für nahezu jede denkbare Kombination einer Lage steht die passende Pfropfrebe zur Verfügung.

Vielleicht ist das etwas übertrieben ausgedrückt, den Kern trifft es. Aufgrund dessen kann man die Aussage, dass gepfropfte eine bessere Traubenqualität liefern können als wurzelechte Rebstöcke, durchaus in den Raum stellen. Es ist sogar sehr wahrscheinlich.

Wenn, dann…

Liefern Weine aus Prä-Phylloxera Rebstöcken beste Weinqualität, dann ist der Grund also doch eher im Alter der Rebstöcke als dem Umstand der wurzelechten Rebe zu suchen. Mit viel kleinerem Ertrag am Stock und dickschaligeren Beerenhäuten erzeugen solch alte Haudegen ein hervorragendes Traubenmaterial.

Dass dies vor allem in sehr schwierigen Jahren zu beobachten ist, wird von Winzern allgemein bestätigt. In optimalen Jahren zeigt sich der Unterschied von altem zu relativ jungen Rebstöcken als geringer.

Will man wirklich wissen, ob »wurzelecht« tatsächlich bessere Weine hervorbringt als »gepfropft«, dann gibt es nur die eine Möglichkeit es herausfinden: Eine Rebfläche mit wurzelechten und gepfropften Rebstöcken neu bepflanzen. Identische Vinifikation, über viele Jahre die Weine wissenschaftlich begleiten und natürlich auch sensorisch beurteilen. Alles andere wäre Studentenfutter, um den Mythos aufrechtzuerhalten.

Erst kürzlich zeigte der Versuch eines renommierten Weinbauinstituts, dass es keine vollkommene Sicherheit vor dem lausigen Wüterich gibt. Ein als absolut reblausresistent eingestufter Rebberg war im Praxisversuch plötzlich keiner mehr.

Zudem entdeckte man in den 1990er-Jahren eine Art Variante B der Reblaus, die in Kalifornien und Neuseeland komplette Rebanlagen zerstörte. Eine wie auch immer geartete mystisch verklärte Euphorie auf vergangene glorreiche wurzelechte Zeiten ist daher gänzlich fehl am Platz.

Hat man jedoch die einzigartige Chance, Weine aus der Prä-Phylloxera-Periode zu trinken, ist dies ein Privileg, von dem nur wenige Weinliebhaber berichten können. Sollte er auch noch Genuss bereiten, was ein Glück! Sich deswegen aber ausschliesslich wurzelechte Rebstöcke zu wünschen, wäre fatal für den gesamten Weinbau in Europa.

Text: Sigi Hiss; Foto: Weingut Sanders & Sanders, Klostergut Klausen

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