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Aufstand der Rheinland-Gallier: Freistaat Flaschenhals

Aufstand der Rheinland-Gallier: Freistaat Flaschenhals

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Aufstand der Rheinland-Gallier: Freistaat Flaschenhals

Die Geschichte des Freistaates Flaschenhals beginnt unmittelbar mit dem Waffenstillstandsabkommen vom 11.11.1918. In einem Eisenbahnwaggon im Wald von Compiègne besiegelten die Vertreter von Frankreich, Grossbritannien und Deutschland das Ende sämtlicher Kampfhandlungen. Massgebliche Punkte des Abkommens waren der vollständige Rückzug aller deutschen Truppen aus den besetzten Gebieten in Belgien, Luxemburg und Frankreich sowie aus Elsass-Lothringen innerhalb von 15 Tagen.

Um Deutschland keinen Raum für einen Revangekrieg zu lassen, besetzten die Siegermächte das linke Rheinufer und drei rechtsrheinische Brückenköpfe. Köln stand fortan unter britischem, Koblenz unter amerikanischem und Mainz unter französischem Oberkommando. Die wie mit einem Zirkel im Radius von 30 km um diese Städte gezogenen Kreise wurden gleichfalls zum Besatzungsgebiet erklärt. Doch aufgrund eines Rechenfehlers verblieb zwischen dem französischen und dem amerikanischen Brückenkopf ein schmaler unbesetzter Streifen – in der Form eines Flaschenhalses. An seiner schmalsten Stelle mass er nicht einmal 1 km Breite, doch er beherbergte ca. 17.000 Menschen in den Orten Lorch, Kaub, Lorchhausen, Sauerthal, Wollmerschied, Welterod, Strüth, Egenroth, Laufenselden und Zorn. Als die Franzosen den Fehler bemerkten, forderte ihr General Jean Jules Herny Mordacq unverzüglich, dieses Gebiet dem französischen Teil zuzuschlagen.

Doch Mordacq hatte seine Rechnung ohne den kleinen, dicken und patriotisch gesinnten Lorcher Bürgermeister Pnischeck gemacht, der in bester „gallischer“ Manier an die deutsche Waffenstillstandskommission telegraphierte, dass „zwischen Bonn und Mainz wenigstens noch ein Streifen wirklichen deutschen Rheines verbleiben soll, frei von jedem welschen Einfluss“. Überdies befürchteten die einstigen Kriegsverbündeten, dass Frankreich in Kontinentaleuropa Hegemonialmachtsfantasien hegen und langfristig die Zerschlagung des deutschen Nationalstaates anstreben könnte, um sich strategisch und wirtschaftlich wichtige Gebiete einzuverleiben.

Aufstand im Flaschenhals

Während die Vertreter von Flaschenhals alles dafür taten, dass Flaschenhals auch weiterhin unbesetzt blieb, agierte der für dieses Gebiet zuständige Wiesbadener Regierungspräsident – angeblich aus humanitären Gründen – dagegen. Er sorgte sich um die Bevölkerung in Flaschenhals, da die Alliierten sämtliche Versorgungswege geschlossen hatten. Der zuständige, in Kassel ansässige Oberpräsident reagierte jedoch prompt und entzog dem Wiesbadener Kollegen aufgrund unpatriotischen Verhaltens die Zuständigkeit. Fortan wurde Flaschenhals politischer Spielball. Die Franzosen setzten alles daran, die Bevölkerung zu zermürben, um den Anschluss an ihr Besatzungsgebiet zu erreichen. So wurden Telefon- und Telegraphenleitungen gekappt und die Briefpost einfach nicht weitergeleitet.

Dank der Weitsicht des Kasseler Oberpräsidenten und der von ihm initiierten Übertragung der kommissarischen Verwaltung an den Landrat von Limburg konnte jedoch bald die notwendigste Versorgung der Bevölkerung sichergestellt werden. Die Einwohner von Flaschenhals entwickelten parallel viel Geschick beim Schmuggeln – besonders in Fleisch und Wein wurde hier „gemacht“. Die Bauern aus den besetzten Zonen trieben nachts ihr Vieh auf die Weiden von Flaschenhals, um es der französischen Besatzungsmacht zu entziehen. In Flaschenhals wurde es geschlachtet und für gutes Geld nach Deutschland verkauft. Als äusserst lukrativ sollte sich auch erweisen, dass nahezu jeder Bürger in Flaschenhals Winzer war und neben den Gebinden für den eigenen Wein und Schnaps freie Fässer hatte, die mit den besten Weinen der Kollegen aus dem besetzten Rheingau gefüllt wurden.

Grundlage für den erfolgreichen Verkauf und Schmuggel der Waren war jedoch der Umstand, dass in Kaub die grösste Lotsenstation am Mittelrhein betrieben wurde. Jedes Schiff nahm an dieser Stelle im Rhein einen Lotsen an Bord, und in der darauffolgenden Nacht hatte zufälligerweise jeder Binnenschiffer ein grosses Interesse, in Flaschenhals auf Reede zu liegen. Im Dunkel der Nacht blühte der Tauschhandel und manch Tonne Schüttgut ging einem Kapitän verlustig – dafür fand er am nächsten Morgen ausreichend Wein und Schnaps an Bord. Trotzdem blieb die Versorgung in Flaschenhals schwierig. Nicht nur Lebensmittel und Heizstoffe wurden knapp, es mangelte an vielem.

Als auch noch die Geldscheine – notwendiges Zahlungs- und Tauschmittel – auszugehen drohten, reagierten die lokalen Behördenvertreter genauso schnell wie pragmatisch. Sie gründeten eine eigene Münze. Auf einem der neuen Geldscheine tauchte dann auch erstmalig der Begriff „Freistaat“ auf. Die am 28. Juni 1919 erfolgte Unterzeichnung der sogenannten Pariser Vorverträge, inklusive des am 10.01.1920 in Kraft getretenen Versailler Vertrages, brachten für Flaschenhals zunächst kaum Veränderung. Einerseits wurden die bestehenden Besatzungsgebiete bestätigt, andererseits definierten sie das Rheinland als „Pfandobjekt“, dessen sich die Alliierten bemächtigen konnten, wenn Deutschland den im Versailler Vertrag auferlegten Reparationsleistungen zukünftig nicht nachkommen sollte.

In der Folgezeit ging es der deutschen Wirtschaft immer schlechter, die Inflation begann zu galoppieren und die Versorgung der eigenen Bevölkerung wurde immer dramatischer. Als der neue, parteilose Reichskanzler Wilhelm Cuno am 09.01.1923 beschloss, erst einmal die eigene Bevölkerung zu versorgen und die Reparationsleistungen nachrangig zu bedienen, hatte Frankreich den lang erhofften Vorwand gefunden, um in weite Teile des Rheinlands einzumarschieren. Am 25. Februar 1923 besetzten französische Truppen (inklusive eines marokkanischen Hilfsbataillons) auch den „Freistaat“ Flaschenhals und der Freistaat war erst einmal Geschichte.

Passiver Widerstand der Bevölkerung – analog eines in ganz Deutschland steuerfinanzierten Generalstreiks – war die Folge. Doch der deutsche Staat hatte nicht genug wirtschaftliche Ressourcen, um diesen Streik ausreichend zu alimentieren, und nach dem Rücktritt der Regierung Cuno wurde der Generalstreik beendet. Gustav Stresemann scheiterte als neuer Reichskanzler ebenfalls, doch nachfolgend – als deutscher Aussenminister – konnte er die Alliierten davon überzeugen, dass ein totaler Zusammenbruch Deutschlands keinem dient. Infolge des Gutachtens von US-Bankier Charles Gate Dawes wurde auf der Londoner Konferenz Mitte 1924 beschlossen, die Reparationszahlungen Deutschlands mit seiner Leistungsfähigkeit zu verknüpfen. Frankreich sicherte parallel auf Druck der Verbündeten zu, sich aus allen nicht vertraglich gesicherten rechtsrheinischen Gebieten zurückzuziehen.

Aufgrund dieser Zusage rückten die Franzosen auch aus Flaschenhals wieder ab und am 16. November 1924 verliess der letzte Franzose den „Freistaat“. Reichspräsident Friedrich Ebert schickte Dankesgrüsse und Glückwünsche. Die während der französischen Besatzung wegen ihres aktiven Widerstands ausgewiesenen Bürger und Staatsbedienstete kehrten zurück und die Lage in Flaschenhals normalisierte sich. Das geografische „Flaschenhals-Dasein“ endete endgültig am 30.06.1930, als jegliche Form der Besatzung im Deutschen Reich endete.

Lang lebe der Freistaat Flaschenhals

Anno 1994 erinnerten sich pfiffige Winzer, Hoteliers und Gastronomen aus Lorch und Kaub der Geschichte ihrer Gross- und Urgrossväter. Sie gründeten die Freistaat Flaschenhals Initiative. Ganz im Sinne ihrer selbstbewussten Vorfahren wurde eine Regierung gebildet, ein Präsident gewählt und eine Vielzahl von Ministerien geschaffen. Von allgemeinem Interesse ist das Auswärtige Amt, das für die Medien-, Verlags- und Öffentlichkeitsarbeit verantwortlich zeichnet. Im Stile eines Konsul Weyer bietet heute die Freistaat Flaschenhals Initiative jedem – natürlich gegen Zahlung eines pekuniären Beitrages – die doppelte Staatsbürgerschaft an.

Der neue Freistaatbürger erhält einen Reisepass und die Möglichkeit, im Rahmen eines 4-Gang-Menüs die regionalen Weine und Destillate zu verkosten. Die meisten der beteiligten Winzer unterhalten eigene Straussenwirtschaften und vermarkten ihre Weine regional im gastronomischen Umfeld. Überregional bekannt ist Jochen Neher vom Weingut Mohr, der in den letzten Jahren insbesondere mit seinen Sekten reüssierte. Gerade deswegen ist es schade, dass unter der Freistaatinitiative lediglich Schaum- und Perlweine angeboten werden, deren Kohlensäure nicht aus der zweiten Gärung stammt.

Schaum- und Perlweine aus dem Flaschenhals

Perlwein Secco mit zugesetzter Kohlensäure, Hersteller Freistaat Flaschenhals Initiative: Mittleres Goldgelb, recht feine Perlage im Glas, etwas gelbe und exotische Frucht zu Beginn, spürbare Süsse, viel Dosenpfirsich, traubig, ordentlich gemacht, schlotzig, etwas pappig, kaum Spiel.
14/20

Rheingau Spätburgunder Weissherbst Qualitätsperlwein b. A., trocken, Abfüller Freistaat Flaschenhals: Roséfarben, recht feine Perlage, saubere Spätburgunderfrucht, etwas Erdbeeren, mit angenehmem Schmelz, eiskalt getrunken frisch und fruchtig, trocken, rotfruchtig, sauber. Mit etwas mehr Wärme kommt der Restzucker deutlicher durch, verliert an Balance, wenig Säure.
13/20

2012 Lorcher Riesling trocken „Befreiungsfestwein Rheingau“ Qualitätswein, Weingut Mohr / Vertrieb Freistaat Flaschenhals: Wunderbare, dem vor 90 Jahren ausgeschenkten Befreiungswein nachempfundene Ausstattung – historische Flasche und historisches Etikett. Klarer Ansatz, deutlich grüne Früchte, frische Säure, sauberer Riesling, dennoch wünscht man sich etwas mehr Inspiration im Freudentaumel der Befreiung.
14/20

2011 Kauber Blüchertal Riesling Spätlese halbtrocken, Weingut Bahles, Mittelrhein: Strahlendes, helles Zitronengelb, in der Nase eine überraschende Frühreife. Am Gaumen gelbes Steinobst, Mandeln, Sanddorncremetorte, kleines Bitterle, hat Schmelz, gute Säure, in den Proportionen stimmig, feine Würze im Abgang, aber wieso ist eine 2011er im Antrunk schon so reif? Mit etwas Luft wird er klarer und frischer, erstaunlich!
15/20

2012 Rheingau Riesling Kabinett feinherb, Weingut Mohr, Rheingau: In der Nase feinwürzige Aromen mit schöner Frische. Klarer Rheingau-Riesling; traubige und saftige Frucht, leichte Kräuterwürzigkeit, angenehme Säure-Süsse-Balance, animierend, ausgewogener Kabinett.
15/20

2012 Kauber Blüchertal Riesling Qualitätswein, Weingut Am Löwenkopf M + W. Kunz, Mittelrhein: Im Bukett dezent grüne Fruchtnoten, vegetabil; am Gaumen traubig, mit etwas Fantasie auch gelbe Apfel- und Zitrusnoten. Bleibt leider blass.
13/20

2011 Lorchhäuser Seligmacher Riesling Auslese, Weingut Theodor Nies, Rheingau: Klare, gelbe Frucht, mit schöner Reife und dezenter Würze. Gut gebaute Riesling-Auslese, die mit einer angenehmen Säure-Süsse-Balance zu überzeugen weiss. Die Hand geht zum Glas, klare Rheingau-Stilistik.
16/20

2011 Lorcher Krone Riesling Auslese, Weingut Am Löwenkopf M + W. Kunz, Rheingau: Klare, helle, goldgelbe Farbe. In der Nase Papaya on the rocks – mit Anklängen von Waldhonig und Muskatnuss. Am Gaumen eine schöne Auslese mit würzigem Spiel und exotischer Frucht (Papaya, gezuckerte Ananas); wieder Waldhonig. Aromatischer Druck, die Süsse ist abgepuffert durch eine animierende Säure; Botrytisnoten. Süss, aber nicht schwer, schöne Länge!
17/20

Text: Michael Quentel, Fotos: Initiative Freistaat Flaschenhals


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